Verfahren bei Internationalen Kindesentführungen
Rückstellung eines unrechtmäßig verbrachten oder vorenthaltenen Kindes nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) bzw. der Verordnung Brüssel IIa
Ausgangslage: Gelegentlich werden Kinder von jenem Ort, an dem sie mit Zustimmung aller Obsorgeberechtigten gelebt haben, gegen den Willen eines „Sorgeberechtigten“ und ohne Genehmigung eines Gerichts dauerhaft an einen anderen Ort gebracht (oder von dort nicht mehr zurückgebracht) werden. Befindet sich der neue Aufenthaltsort in einem anderen Staat, so spricht man von internationaler Kindesentführung. Rechtsvorschriften dazu, wie mit einer solchen Situation juristisch umgegangen werden kann, finden sich auf internationaler, europäischer und österreichischer Ebene.
Rechtsgrundlagen: Basis ist ein internationales Instrument: Das Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) ist ein multilateraler (also zwischen mehreren Staaten geltender) Vertrag, dessen Ziel es ist, Kinder vor den schädlichen Folgen grenzüberschreitender Entführungen und grenzüberschreitenden Vorenthaltens zu schützen und ein Verfahren zu ihrer raschen Rückstellung bereitzustellen.
Eine Vorschrift der EU tritt zu diesem internationalen Rechtsinstrument hinzu, wenn sich der Fall zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten (außer Dänemark) abspielt. Die seit 1.9.2022 anzuwendende Verordnung (EU) 2019/111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (Brüssel IIb) ergänzt und modifiziert die Regeln des HKÜ und gilt in allen Mitgliedstaaten der europäischen Union mit Ausnahme Dänemarks. Auch vor dem 1.8.2022 gab es schon eine ähnliche Ergänzung: Die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates v 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (VO Brüssel IIa). Dazu treten noch Bestimmungen im nationalen österreichischen Verfahrensrecht (§ 109a JN, §§ 111a ff AußStrG).
Kern der Regelungen: Das Kernstück all dieser Rechtsvorschriften bildet ein System der internationalen Zusammenarbeit über Zentrale Behörden, die sozusagen eine Brücke zwischen den Gerichten des Ursprungsstaates und jenen des Entführungsstaates bauen. Das Bundesministerium für Justiz (Abteilung I/10) ist Zentrale Behörde nach dem HKÜ und der Brüssel IIb VO.
Bei einem Antrag nach dem HKÜ geht es nicht um die Obsorge, also die abschließende Entscheidung, wer das Kind pflegen und erziehen, sein Vermögen verwalten und es nach außen vertreten soll, sondern nur darum, das Kind in den Staat zurückzustellen, in dem es zuletzt im Einverständnis beider obsorgeberechtigter Eltern gelebt hat. Mit „Entführung“ wird kurz umschrieben, dass eine Person das unter 16-jährige Kind unrechtmäßig (also ohne uneingeschränkte Zustimmung aller Sorgeberechtigten) in einen anderen Staat verbringt oder dort zurückhält.
Auch wenn dies in den allermeisten Fällen ein Konflikt zwischen den beiden Eltern ist, muss es nicht immer so sein. Auch andere Personen (z.B. Großeltern) können das Kind entführen. Selbst beide Elternteile gemeinsam können ein Kind entführen, wenn es davor nicht in ihrer Obsorge stand (sondern etwa in der Obsorge des Kinder- und Jugendhilfeträgers oder eines Großelternteils). „Entführung“ ist – sofern widerrechtlich, also mit einem Sorgerechtsbruch verbunden – nicht nur die Verbringung des Kindes, sondern auch das Zurückhalten (Paradebeispiel: ein Elternteil kommt mit dem Kind aus dem Auslandsurlaub nicht mehr zurück). Selbst ein Elternteil, der mit der Obsorge betraut ist, kann das Kind in diesem Sinn entführen, wenn er solche Aktionen gegen den Willen des anderen Elternteils und ohne gerichtliche Genehmigung setzt.
Um dieses Verfahren auszulösen, müssen immer zwei Staaten beteiligt sein: der Ursprungsstaat, somit jener Staat, in dem das Kind zuletzt ungestört mit dem (den) Sorgeberechtigten gelebt hat, und der Entführungsstaat (oder Verbringungsstaat), in den das Kind durch den Sorgerechtsbruch gelangt oder in dem es unter Sorgerechtsbruch belassen wird. Für Entscheidungen über das Sorgerecht bleibt der Ursprungsstaat zuständig. Die Gerichte des Entführungsstaates haben (nur) über eine Rückstellung des Kindes zu entscheiden.
Verfahren nach dem HKÜ: Das Verfahren beginnt mit einem Antrag des zurückgelassenen Elternteils auf Rückstellung des Kindes. Für das Verfahren sind Rückführungen nach Österreich (nachdem das Kind aus Österreich in einen anderen Staat entführt wurde) und Rückführungen aus Österreich (nachdem das Kind aus einem anderen Staat nach Österreich entführt wurde) zu unterscheiden.
Aus Österreich entführte Kinder: Wurde das Kind aus Österreich entführt und soll daher nach Österreich zurückgestellt werden, wendet sich der in Österreich zurückgebliebene Elternteil an das zuständige Pflegschaftsgericht, also jenes Bezirksgericht, in dessen Sprengel das Kind den letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Entführung hatte. Dieses Gericht ist in der Lage, zu bestätigen, dass die Entführung mit einem Sorgerechtsbruch verbunden war. Das Gericht leitet die Sache dann an das BMJ als Zentrale Behörde weiter. Nach einer Prüfung, ob der Antrag vollständig ist, leitet das BMJ alle Unterlagen an die Zentrale Behörde des Entführungsstaates weiter, wo der Antrag geprüft und nach dem Recht des Entführungsstaates behandelt wird. Ob die Zentrale Behörde den Fall dann selbst vor Gericht vertritt oder dafür sorgt, dass ein:e Anwalt:Anwältin, die Staatsanwaltschaft (in manchen Ländern hat sie auch im Zivilrecht größere Kompetenzen) oder andere Institutionen den zurückgebliebenen Elternteil im Verfahren vertreten, bleibt ebenfalls dem nationalen Recht des Entführungsstaates überlassen. Das BMJ hat hier auch nur recht eingeschränkte Möglichkeiten, das Verfahren zu beschleunigen. Es kann die ausländische Zentrale Behörde um Berichte ersuchen. Direkte Hilfe im anderen Staat kann österreichischen Staatsbürgern durch die Konsularabteilung der österreichischen Botschaft geleistet werden.
Nach Österreich entführte Kinder: In jenen Fällen, in denen ein Kind nach Österreich entführt wurde und daher aus Österreich in den Ursprungsstaat zurückgebracht werden soll, wird der Antrag von der Zentralen Behörde des Ursprungsstaates an das BMJ als Zentrale Behörde weitergeleitet. Das BMJ leitet den Antrag nach einer Prüfung auf Vollständigkeit an das zuständige österreichische Gericht weiter, wo er geprüft und nach österreichischem Recht behandelt wird. Nur das Bezirksgericht am Sitz des Landesgerichts ist für Rückstellungsanträge, die aus dem Ausland kommen, zuständig. Dem zurückgelassenen Elternteil wird – gleichgültig, wie seine Einkommens- und Vermögenssituation ist – ein:e Rechtsanwalt:Rechtsanwältin zur Verfahrenshilfe bestellt. Das BMJ als Zentrale Behörde vertritt den Fall nicht vor Gericht, sondern dient nur zur Überwachung einer möglichst raschen Erledigung und – wo nötig – als Informationsdrehscheibe zwischen Gericht, Verfahrenshilfeanwalt und ersuchender ausländischer Zentraler Behörde.
Das Gericht prüft, ob ein unrechtmäßiges Verbringen oder Vorenthalten vorliegt. Der entführende Elternteil kann – sehr eng umschriebene – Verweigerungsgründe vorbringen, aufgrund derer die Rückstellung nicht anzuordnen ist. So kann geltend gemacht werden, dass das Sorgerecht tatsächlich nicht ausgeübt wurde, dass der Sorgeberechtigte der Verbringung zugestimmt hat, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre oder dass sich das ausreichend reife Kind ernstlich weigert, zurückzukehren.
Liegen keine Verweigerungsgründe vor, ist dem Rückführungsantrag in einem Schnellverfahren stattzugeben. Die stattgebende Entscheidung wäre zu befolgen, kann aber auch mit angemessenen Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Das bedeutet, dass ein spezialisiertes Teammitglied aus dem Kreis der Gerichtsvollzieher, allenfalls unter Mitwirkung der Kinder- und Jugendhilfe und der Exekutive, dem entführenden Elternteil das Kind abnimmt und dafür sorgt, dass es jemand übernimmt, um es in den Ursprungsstaat zurückzubringen.
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